Cannabinoide und Gesundheit: medizinische Einsatzbereiche

(Phyto-)Cannabinoide, die Wirkstoffe der Cannabispflanze, haben in den letzten Jahren zunehmend Aufmerksamkeit in der medizinischen Forschung und Therapie erlangt. Die Hauptwirkstoffe Δ-9-Tetrahydrocannabinol (THC) und Cannabidiol (CBD) stehen im Zentrum der wissenschaftlichen Betrachtung. Ihre Anwendungsbereiche reichen von der Schmerzlinderung über die Therapie von neurologischen Erkrankungen bis hin zur Unterstützung bei Krebstherapien.

Wieso wirkt Cannabis?

Cannabis wirkt auf den menschlichen Körper durch das Endocannabinoidsystem (ECS), ein umfassendes Netzwerk aus Rezeptoren und Signalstoffen, das essentiell für die Aufrechterhaltung des körperlichen und geistigen Gleichgewichts ist. Das ECS ist in zahlreichen physiologischen Prozessen wie Schmerzregulation, Stimmungsmodulation, Appetitkontrolle und Gedächtnisfunktion involviert. Cannabinoide aus der Cannabispflanze, wie THC und CBD, interagieren mit diesem System, indem sie an spezifische Rezeptoren binden, wodurch sie die verschiedenen Funktionen des Körpers beeinflussen können. Diese Interaktion ermöglicht es Cannabinoiden, therapeutische Effekte auszuüben, beispielsweise Schmerzlinderung, Stimmungsaufhellung, Appetitanregung und Verbesserung der Schlafqualität, indem sie die natürlichen Prozesse des ECS modulieren. Detaillierte Informationen, wie genau das ECS funktioniert, können in unserem Artikel “Das Endocannabinoidsystem verstehen” nachgelesen werden.

THC und CBD: Wirkungsweisen

Die Wirkstoffe THC (Tetrahydrocannabinol) und CBD (Cannabidiol) sind die bekanntesten und am intensivsten erforschten Cannabinoide, die in der medizinischen Anwendung von Cannabisprodukten genutzt werden. Ihre Wirkungen im menschlichen Körper sind vielfältig und hängen eng mit dem Endocannabinoidsystem (ECS) zusammen, das eine wichtige Rolle in zahlreichen physiologischen Prozessen spielt.

THC (Δ-9-Tetrahydrocannabinol)

THC ist primär für seine schmerzlindernden, muskelentspannenden und appetitanregenden Effekte bekannt.Die Wirkungen werden durch die Interaktion von THC mit den CB1- und CB2-Rezeptoren des Endocannabinoidsystems vermittelt, welche die Freisetzung verschiedener Neurotransmitter im Gehirn beeinflussen. Studien haben gezeigt, dass THC effektiv zur Schmerzlinderung beitragen kann, insbesondere bei chronischen Schmerzen, neuropathischen Schmerzen und bei der Behandlung von Schmerzen im Zusammenhang mit Multipler Sklerose und Krebs. THC kommt darüberhinaus häufig bei der Behandlung von Gewichtsverlust bei AIDS-Patienten und Übelkeit sowie Erbrechen bei Chemotherapie zum Einsatz.1-4

Allerdings sind mit THC auch psychotrope Effekte verbunden, die bei der medizinischen Verwendung berücksichtigt werden müssen. Zu den möglichen Nebenwirkungen gehören Veränderungen der Wahrnehmung, des Gedächtnisses und der Stimmung.

CBD (Cannabidiol)

CBD hat entzündungshemmende, angstlösende, antiepileptische und neuroprotektive Eigenschaften.5 Es wirkt hauptsächlich durch die Modulation verschiedener Rezeptoren, darunter auch Nicht-Cannabinoid-Rezeptoren, und beeinflusst damit eine Vielzahl von physiologischen Prozessen. Zudem unterscheidet sich CBD von THC durch das Fehlen der mit THC-assozierten psychoaktiven Wirkung, was es zu einer attraktiven Option für Patienten macht, die die therapeutischen Vorteile von Cannabinoiden ohne die psychotropen Effekte suchen. Die Wirksamkeit von CBD wurde in verschiedenen Studien belegt, insbesondere bei der Behandlung schwerer Formen der Epilepsie, bei Angststörungen und möglicherweise bei Schizophrenie.1

Kombination THC/CBD

Die Kombination von THC und CBD in therapeutischen Produkten kann synergistische Effekte hervorrufen, die als “Entourage-Effekt” bekannt sind. Dies bedeutet, dass die kombinierte Wirkung beider Substanzen größer sein kann als die Summe ihrer individuellen Effekte. Dieses Phänomen kann dazu beitragen, die therapeutische Wirksamkeit zu verbessern und gleichzeitig die Nebenwirkungen zu minimieren. So kann CBD die Wirkungen von THC moderieren, indem es dessen Bindung an die CB1-Rezeptoren verringert und die unerwünschten Nebenwirkungen wie Angstzustände und Paranoia reduziert. Es konnte zudem gezeigt werden, dass CBD synergistisch zum THC-vermittelten analgetischen Effekt beitragen und somit  zu einem verbesserten Therapieergebnis führen kann.6,7 Die optimale Balance zwischen THC und CBD sowie die Dosierung hängen von der spezifischen medizinischen Indikation und den individuellen Patientenbedürfnissen ab.

Medizinische Einsatzbereiche von Cannabinoiden

Angesichts der umfangreichen Forschung und der wachsenden Erkenntnisse über THC und CBD öffnet sich ein neues Kapitel in der medizinischen Nutzung von Cannabinoiden. Diese natürlichen Verbindungen, die eine direkte Interaktion mit dem menschlichen Endocannabinoidsystem (ECS) aufweisen, bieten einzigartige therapeutische Möglichkeiten für eine Vielzahl von Zuständen und Erkrankungen.

Die medizinischen Anwendungsbereiche von Cannabinoiden sind vielfältig und erstrecken sich über ein breites Spektrum an Erkrankungen und Symptomen. Zu den etablierten Indikationen zählen:1-9

  • Schmerzmanagement: Cannabinoide haben sich als effektiv in der Linderung von chronischen Schmerzen, insbesondere neuropathischen Schmerzen, erwiesen.
  • Neurologische Erkrankungen: Die Anwendung bei Multipler Sklerose zur Reduktion von Spastik sowie bei schweren Formen der Epilepsie, wie dem Dravet-Syndrom, unterstreicht das neuroprotektive Potenzial von Cannabinoiden. Cannabinoide werden darüberhinaus auch bei weiteren neurologischen Erkrankungen wie beispielsweise Migräne, ADHS oder dem Tourette-Syndrom eingesetzt.
  • Onkologische Erkrankungen: Die Verbesserung der Lebensqualität von Krebspatienten durch die Linderung von Übelkeit und Erbrechen während der Chemotherapie sowie die Anregung des Appetits bei Anorexie und Kachexie sind wichtige Beiträge von THC und CBD.
  • Psychiatrische und psychologische Zustände: CBD zeigt vielversprechende Ergebnisse in der Behandlung von Angststörungen und könnte eine Rolle in der Therapie von Depressionen und PTSD spielen.

In der Begleiterhebung zur Anwendung von Cannabisarzneimitteln des BfArM berichteten 74 % der Patient:innen symptomübergreifend von einer Verbesserung der Beschwerden und einer Zunahme der Lebensqualität. Auftretende Nebenwirkungen waren dabei zwar insgesamt häufig, aber fielen überwiegend leicht bis moderat aus und führten insgesamt bei lediglich 8,2 % der Fälle zu einem Therapieabbruch.2

Rechtliche Rahmenbedingungen

Um den Zugang zu medizinischem Cannabis für Patient:innen zu erleichtern wurden 2017 gesetzliche Rahmenbedingungen für die Verordnung und die mögliche Kostenübernahme einer Cannabinoidtherapie durch die Krankenkasse geschaffen.

Nach § 31 Absatz 6 SGB V haben Versicherte mit einer schwerwiegenden Erkrankung Anspruch auf Versorgung mit medizinischem Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten in standardisierter Qualität und auf Versorgung mit Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Dronabinol oder Nabilon, wenn:

  • eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung 
  1. nicht zur Verfügung steht 
  2. oder im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung der behandelnden Vertragsärztin oder des behandelnden Vertragsarztes unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes der oder des Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann.
  • eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht.

Fazit und Ausblick

Die Forschung zu Cannabinoiden und deren medizinischen Anwendungen ist ein dynamisches Feld, das Potenzial für neue Therapieansätze bietet. Die symptomübergreifende Wirkung von Cannabinoiden kann für Patient:innen mit chronischen Erkrankungen eine wertvolle Behandlungsoption darstellen. Die große Stärke einer Therapie mit Cannabinoid-basierten Arzneimitteln liegt in der symptomübergreifenden Wirkung. Viele chronisch kranke Patient:innen leiden unter Symptomkomplexen, die häufig mit einer Vielzahl an Medikamenten behandelt werden und nicht selten zu weiteren gesundheitlichen Beeinträchtigungen aufgrund von Nebenwirkungen führen. Für diese Patienten kann der multi-symptomale Ansatz mit Cannabinoiden eine Alternative darstellen, durch die im besten Fall auch die Einnahme und Dosierung weiterer Medikamente reduziert werden kann. Hierdurch kann auch die Lebensqualität dieser Patient:innen verbessert werden.10 Wichtig ist dabei eine individuelle, auf den Patienten abgestimmte Anwendung, die das breite Spektrum an Wirkungen und möglichen Nebenwirkungen berücksichtigt. Die kontinuierliche Forschung und Entwicklung in diesem Bereich verspricht weitere Erkenntnisse und Verbesserungen für die medizinische Praxis.

Quellen: 

  1. Grothenhermen, F., and K. Müller-Vahl. “Das therapeutische Potenzial von Cannabis und Cannabinoiden.” Dtsch Ärztebl 109.29-30 (2012): 495-501.
  2. Abschlussbericht der Begleiterhebung nach § 31 Absatz 6 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch zur Verschreibung und Anwendung von Cannabisarzneimitteln des BfArM 2022.
  3. Whiting, Penny F., et al. “Cannabinoids for medical use: a systematic review and meta-analysis.” Jama 313.24 (2015): 2456-2473.
  4. Abrams, D. I. The therapeutic effects of Cannabis and cannabinoids: An update from the National Academies of Sciences, Engineering and Medicine report.  Eur. J. Intern. Med. 49, 7–11 (2018). 
  5. Pisanti, S., Malfitano, A. M., Ciaglia, E., Lamberti, A., Ranieri, R., Cuomo, G., Laezza, C. (2017). Cannabidiol: State of the art and new challenges for therapeutic applications. Pharmacology & therapeutics, 175, 133-150. 
  6. Russo, Ethan B. “Taming THC: potential cannabis synergy and phytocannabinoid‐terpenoid entourage effects.” British journal of pharmacology 163.7 (2011): 1344-1364.
  7. Johnson, Jeremy R., et al. “Multicenter, double-blind, randomized, placebo-controlled, parallel-group study of the efficacy, safety, and tolerability of THC: CBD extract and THC extract in patients with intractable cancer-related pain.” Journal of pain and symptom management 39.2 (2010): 167-179.
  8. https://www.tk.de/techniker/gesundheit-und-medizin/behandlungen-und-medizin/indikationeb-cannabis-medizin-2032610?tkcm=aaus 
  9. Russo, Ethan B. “Clinical endocannabinoid deficiency reconsidered: current research supports the theory in migraine, fibromyalgia, irritable bowel, and other treatment-resistant syndromes.” Cannabis and cannabinoid research 1.1 (2016): 154-165.
  10. Aviram, Joshua, et al. “Prolonged medical cannabis treatment is associated with quality of life improvement and reduction of analgesic medication consumption in chronic pain patients.” Frontiers in Pharmacology 12 (2021): 613805.